24.12.2016 von Ralph, Collages von Mervi, Übersetzung von Bärgit, Video von Doro
STILLE NACHT
In den Höhlen hinter der Felsenwand im Tierpark Berlin war alles ganz still, vom zarten Atmen dreier Eisbären einmal abgesehen.
Die Stille wurde unterbrochen vom ersten Schrei eines Neugeborenen. Ihm folgte sogleich der Schrei eines zweiten Babys, kaum größer als eines Menschen Hand.
Menschenohren wären nicht in der Lage gewesen, der Unterhaltung zu folgen, die sich dann entspann, weil es eine Mischung aus Gerüchen und Grunzen und Geschmäckern war.
Der alte Eisbär war unter Menschen als Aika bekannt, aber unter ihresgleichen hieß sie die „Weise und Sanftmütige“
Die Mutter, Tonja, oder auf Eisbärisch „Bringerin des Lebens“, hörte mit einem Ohr ihren Neugeborenen zu und mit dem anderen Aika.
“Ich muss dich bald verlassen. Aber zuerst muss ich dir noch erzählen, was passieren wird.
Ich habe dir ja schon gesagt, dass unsere Kleinen kostbar und zerbrechlich sind, und dass du wissen musst, was zu tun ist, wenn ein Junges zu schwach ist, seinen Lebensweg zu meistern.
Ich habe das große Glück, dass ich nach so vielen Jahren in diesen Höhlen, Neugeborene sehen darf. Aber ich bin auch damit gesegnet, dass eines der Kleinen mich zu den Eisfeldern begleiten wird.“ Aikas Mund öffnete und schloss sich.
Tonja jaunzte bei der Vorstellung, dass sie eines ihrer kostbaren Kleinen verlieren würde, leise in Schmerz auf und auch wegen des Abschieds ihrer Kinderfrau und ersten Freundin im neuen Land.
“Meine Kleine, du weißt, dass viele der neugeborenen Eisbären das Geschenk des Lebens nicht festhalten können.
Aber ich habe dir auch von dem Wunder erzählt, das auf jeden von uns weißen Bären wartet. Die Kleinen, die vor ihrer Zeit weiterziehen müssen, werden alten Bären, wie ich einer bin, in Obhut gegeben.
Was du nicht weißt, ist, dass auf den Eisfeldern Alter und Größe überhaupt keine Rolle spielen. Aber die Kleinen, die nicht auf der Erde leben, brauchen Mütter, die ihnen beibringen, was es heißt, Eisbär auf den Eisfeldern zu sein, und sie ihren Weg wählen lassen.
Dein Kleines wird mich über die Regenbogenbrücke begleiten. Das andere Junge wird bei dir bleiben und du musst ihm all das, was du gelernt hast, auch beibringen.“ Aika brummte zärtlich.
Ich habe dir ja schon gesagt, dass unsere Kleinen kostbar und zerbrechlich sind, und dass du wissen musst, was zu tun ist, wenn ein Junges zu schwach ist, seinen Lebensweg zu meistern.
Tonja jaunzte, um ihr zu zeigen, dass sie das verstanden habe. Das alles gleich zu begreifen war für sie zuviel und sie hielt ihre beiden hübschen Babys zwischen ihren Tatzen und wusste doch schon, dass eines sie viel zu früh würde verlassen müssen.
„Mein Kleines, weine nicht. Die weißen Bären sind unsterblich wie der Schnee und das Eis und der Wind. Das Leben nimmt vielerlei Gestalt an und wir sind alle Kämpfer!
Bald darauf traten Aika und das Kleine ihre Reise über die Regenbogenbrücke an.
Für die Pfleger, die die Bären so sehr liebten, war das ein große Tragödie inmitten der Hoffnung auf die ersten Berliner Eisbären seit zehn Jahren. Aber wie der Eisbär, der damals um seine Chance im Leben gekämpft hatte, würden auch Tonjas Kleine ihr Schicksal finden.
Das andere Eisbärbaby hieß Knut. Seine leibliche Mutter und seine Ziehmutter sind nun bei ihm in den himmlischen Eisfeldern. Aika konnte Toscas Gesang in der Nachtluft hören, es war ein Wiegenlied, das alle Eisbärmütter ihren Neugeborenen leise vorsingen. Aber es gab da auch ein Geräusch, das sie nicht kannte, es war der Klang einer Gitarre, die ein menschliches Wiegenlied spielte. Bald würde sie zu Hause sein.
VIDEO VON DORO