Ein ganz hohes Tier
Sonntag, 31. Oktober 2010 02:13 - Von Ulli Kulke
Das Schreiben hatte es in sich, eingegangen am Freitag, 7. Dezember 1990, nachmittags: "Sie werden am Montag, den 10. Dezember 1990 Ihre Amtsgeschäfte an Ihren Stellvertreter, Herrn Grummt, übergeben. Sie haben Zeit bis zum Freitag, den 14. Dezember, um ihr Büro zu übergeben.
Leider müssen wir Sie auch anweisen, bis Ende des Monats Ihre Dienstwohnung zu räumen, was hoffentlich kein Problem für sie sein wird, da Sie mit Ihrer Gattin ein Haus besitzen."
Der Empfänger des Briefes hatte keine silbernen Löffel gestohlen, sich weder Illoyalitäten noch Untreue geleistet und war durch keine Unbotmäßigkeiten aufgefallen: Heinrich Dathe, gerade 80 Jahre alt geworden und seit 36 Jahren, seit der Gründung, Direktor des Ost-Berliner Tierparks in Friedrichsfelde, des flächenmäßig größten Zoos der Welt, von Kollegen aus allen Kontinenten als Nestor der Tiergärtnerei angesehen, bis ins hohe Alter Hauptredner auf allen möglichen internationalen Kongressen in Ost und West, der sich noch im Mai 1989, kurz vor der Wende, auf einer Reise in die Bundesrepublik für den Zoo Hannover einsetzte, als dort heftige Finanzkürzungen ins Haus standen. In der DDR war er bekannt wie ein bunter Braunbär, gehörte zur Hauptstadt-Prominenz, auch wenn er sich stets geweigert hatte, in die SED einzutreten, und mehrfach am Telefon lautstark daran arbeitete, die Stasi aus seinem Parkbetrieb herauszuhalten. 30 Jahre lang war er Star der wöchentlichen Sendung des DDR-Fernsehen mit der höchsten Zuschauerzahl, "Im Tierpark belauscht". Zwei Schriftsteller aus den alten Bundesländern machten ihn in den letzten Jahren zum Protagonisten ihrer Romane bei renommierten Verlagen, ventilierten sein Verhältnis zur Kreatur und seinen wissenschaftlichen Disput mit Konrad Lorenz über zentrale Fragen der Verhaltensforschung. "Er war der Grzimek des Ostens", sagt der eine von ihnen, Richard David Precht, "oder vielleicht gerechter: Grzimek war der Dathe des Ostens". Beide waren, natürlich, gute Bekannte.
Heinrich Dathe hatte keine Illusionen, wollte nicht bis zum 100. Geburtstag weitermachen, den er in diesem Jahr, am 7. November, hätte feiern können. "Ist doch klar, dass ich mit meinen 80 Jahren nicht an meinem Stuhl festhalte", sagte er. Allerdings fühlte er sich dazu verpflichtet, seinen Zoo noch über die ersten Wirren der Wende zu führen. Groß war die Angst, dass eine der beiden Anlagen in der wiedervereinigten Stadt geschlossen würde. Was auf den Friedrichsfelder Park hinauslaufen würde, wie man dort befürchtete. Doch dann bekam der alte Herr, gestrenger, väterlicher Chef von 400 Tiergärtnern, den Brief: "Sie werden...", "Sie haben zu...", "wir müssen Sie anweisen..." und: "kein Problem". Geschrieben im Hause der Kulturstadträtin im Ost-Berliner Magistrat, Irana Rusta, SPD. 36 Jahre war sie alt damals, genau wie Dathes Tierpark.
Dathe überlebte den Brief gerade mal um einen Monat. Am 6. Januar starb der Zoodirektor. "An gebrochenem Herzen", zitiert Jürgen Mladek "die, die ihn kannten" in seiner Biografie "Professor Dathe und seine Tiere" (Verlag Das Neue Berlin). Mehrere tausend Trauergäste hörten Tage später am Grab eine grollende Rede des Pastors über "gedankenlose Taktlosigkeiten". Falk Dathe, der Sohn, heute Kurator für Lurche und Kriechtiere im Tierpark, meint nicht, dass der Brief seinen Vater in den Tod getrieben habe, war er doch zuletzt schwer an Krebs erkrankt. Überzogen sei der Brief gewesen und er habe den Krankheitsverlauf womöglich beschleunigt, aber es wäre falsch, diese Umstände bei der Würdigung des Vaters in den Vordergrund zu stellen. "Sein Leben war ein positives, ein erfülltes. Er hat erreicht, was er angestrebt hatte".
Bestes Beispiel dafür allerdings war gerade die Wohnung auf dem Parkgelände, die er zuletzt innerhalb weniger Tage, an den Weihnachtstagen, räumen sollte. "Was heißt da Wohnung? Es war eine Mischung aus Museum, Gelehrtenstube und Management-Zentrale, das Herz des Tierparks, der Ausguck und Hochsitz des Machers. Angefüllt mit tausenden Büchern und noch mehr wundervollen Erinnerungen", schreibt Mladek. Und Falk Dathe sagt: "Mein Vater konnte gar nicht unterscheiden zwischen Privatleben und Dienst, immer wieder arbeitete er abends, saß stets an vielen Artikeln und Aufsätzen gleichzeitig, hatte für jeden Vorgang zu Hause einen eigenen Tisch." Auch Sohn Falk wuchs auf in der Wohnung im Park. Gleich damals zogen sie hier ein, als alles anfing.
Es war 1953, als man im Rathaus und auch in der SED-Spitze plötzlich auf die Idee gekommen war, einen Tierpark im Osten der Stadt aufzubauen. "Was den Magistrat überhaupt dazu bewogen hatte, so eine Anstrengung zu unternehmen, ist bis heute noch nicht genau geklärt", schreibt Mladek. Alle Baubrigaden hatten schließlich die Kriegsruinen zu beseitigen und den Wohnungsbau voranzutreiben. Und der attraktive Zoo im Westen war damals, acht Jahre vor dem Mauerbau, noch für alle Ostdeutschen zugänglich, wobei sie seit der Währungsreform auf dem Schwarzmarkt astronomische Summen an DDR-Mark aufwenden mussten, um die nötigen West-Mark für den Eintritt zusammenzubekommen.
Letztlich dürfte die gerade niedergeschossene Revolte vom 17. Juni 1953 den Sinn dafür geweckt haben, die Bevölkerung mit Attraktionen zu versöhnen. Drei traditionsreiche Zoologische Gärten gab es damals in der DDR: Halle, Dresden und Leipzig. Der Letztere, als berühmtester aller drei, sollte nun beim Neuaufbau eines vierten in der Hauptstadt helfen, mit Tieren, Personal und Konzeptarbeit. Schnell war es Dathe, damals stellvertretender Zoodirektor in Leipzig, sowie seinem Chef, Karl Max Schneider, mit dem er dort seit den 30er Jahren zusammenarbeitete, klar, dass Berlin nur einen Kandidaten hatte für den neuen Posten des Tierparkdirektors: Heinrich Dathe. Doch der hatte "aus den verschiedensten Gründen gar keine Lust, aus meiner geliebten Messestadt in das Häusermeer Berlins überzusiedeln", wie er in seinen "Lebenserinnerungen" schrieb. Vor allem, weil er nach der Pensionierung Schneiders dessen renommierten Job übernehmen wollte. Auch befürchtete er als Sachse, im preußischen Teil der DDR geschnitten zu werden; Vorbehalte waren damals bereits virulent.
Doch dann kam der Tag, an dem eigentlich Schneider zur Beratung nach Berlin fahren sollte, der aber auf Auslandsreise war, Dathe ihn vertreten musste, und man ihm das geplante Gelände vorführte: Der Schlosspark Friedrichsfelde, mit dem Schloss selbst, das den Krieg überstanden hatte. "Das ist die Chance meines Lebens", sah Dathe nun doch; die Chance für einen Landschaftspark von 160 Hektar (der Charlottenburger Zoo hat 35), mit Hügeln, mit romantischen Accessoires wie kleinen Denkmälern und idyllischen Gewässern, und bald voller exotischer Tiere. Schon als Kind und Jugendlicher kannte Dathe nur ein Hobby: hinaus in die vogtländische Natur zum Beobachten von Vögeln und anderen Tieren. Er schlug ein.
Am 27. August 1954 wurde er Zoodirektor, vorerst allerdings noch ohne Zoo. Der war erst noch zu bauen. Vorerst ohne Bauarbeiter. Das "Nationale Aufbauwerk" (NAW) musste einspringen, das die Werktätigen aller möglichen Branchen damals nach Feierabend und ohne Lohn zu mehr oder weniger freiwilligen Schichten anhielt. Als erstes ließ Dathe Käfige bauen für Tiere, die es im Winter auch ohne Heizung aushielten, weil man sich die noch nicht leisten konnte. Wonach sich auch die ersten Spender richteten, als dann nach und nach die Gehege fertig wurden: Der VEB Kälte stiftete einen Eisbär, die Stadt Straußberg ein Straußenpaar und die Staatssicherheit - hier blieb der Grund geheim - einen Brillenbär. Es war einer der vielen Annäherungsversuchen der Stasi, sogar seine Frau versuchte sie als IM zu aktivieren. Einen Mitarbeiter, der ihn ganz offensichtlich kontrollieren sollte, konnte er bald schon wegen Unfähigkeit rausschmeißen. Reibereien mit den Behörden hatte Dathe auf mehreren Ebenen: So beanspruchten die "Organe" seinen Dienstwagen, um damit regelmäßig nach Feierabend Gefangene zu transportieren, was sich der populäre Zoodirektor schon wegen seines Renommees nicht bieten lassen durfte. Erneut war ein lautes Telefonat fällig, und er hatte sein Fahrzeug wieder exklusiv. Mal verbot ihm die Stasi, auf einem seiner Hügel ein Aussichtscafé zu errichten, weil man von dort die benachbarte Stasi-Bezirksverwaltung einsehen könnte. Mal brach eine ganze Affenherde aus und flüchtete mit gewandten Sprüngen ausgerechnet auf das Gelände ebendieser Staatssicherheit.
"Er ruhte in sich selbst" charakterisiert ihn der Schriftsteller Precht, der in seiner Jugend davon träumte, später Dathes Job zu übernehmen, in seinem Roman "Die Kosmonauten". Auch Falk Dathe bestätigt das, doch er fügt hinzu: "Er konnte durchaus deutlich werden, was alle erfuhren, die mit ihm zu tun hatten". Mladek beschreibt ihn als einen Patriarchen, der sich im Guten wie im Kritischen wie ein Familienvater um seine Mitarbeiter kümmerte, der es nicht hinnahm, wenn unter Verheirateten von ihnen Affären begannen. Er konnte auch schon mal nachts auf Wegen im Tierpark auftauchen.
Magistrat und Partei hätten es gern gesehen, wenn Dathe seinen Zoo als Konkurrenz zum Charlottenburger Zoo aufgezogen hätte, doch dazu war er viel zu gut befreundet - seit den 30er Jahren - mit der dortigen langjährigen Zoodirektorin Katharina Heinroht. Stolz war man dann aber schon im Rathaus, als 1956 Dathe höchstpersönlich seiner Kollegin im Westen einen dort gestohlenen Papagei überbringen konnte. Der war zuvor in den Ostteil der Stadt verbracht worden, hatte dann in einer Wohnung durch sein unbändiges Geschrei auf sich aufmerksam gemacht, woraufhin die Volkspolizei ihn "befreite" und anschließend für ein paar Monate im Tierpark unterbrachte. Nach dem Mauerbau wurde der Kontakt spärlicher, zu Heinroths Nachfolger Klöß war der Draht "weniger persönlich", erinnert sich Sohn Falk.
2009 geriet Dathes Name noch einmal in die Diskussion. Die grüne Schulstadträtin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg wollte dafür sorgen, dass das 1996 nach dem Zoodirektor benannte Dathe-Gymnasium umbenannt wird. Der Grund: Dathe war 1932 als 21-jähriger in die NSDAP eingetreten. Das sei, so sagte die Politikerin, ihr jetzt bekannt geworden. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass es darum - auch in der DDR - nie ein Geheimnis gab, dass Dathe sich längst öffentlich und mit dem Eingeständnis als Fehler dazu bekannt hatte, zuletzt in seiner Autobiografie "Lebenserinnerungen". Und dass dies auch bei der Namensgebung der Schule eingehend diskutiert worden war. Inzwischen ist geklärt: Die Schule behält Dathes Namen, wie auch der Heinrich-Dathe-Platz und die Dathe-Promenade gegenüber dem Tierpark.
Quelle :Berliner Morgenpost BIZ 31102010
Marga