Fortsetzung von Teil 1!
Churchill ist schön, hat einen mächtigen Kopf, einen gewaltigen Körper und einen gefährlichen Gesichtsausdruck. Es kann sein, dass ich das Gefährliche nur gesehen habe, weil ich weiß, wie überaus bedrohlich er für die Eisbärenfrauen tatsächlich ist.
Bevor Churchill zum Einzelgänger verurteilt wurde, teilte er das Außengehege mit den Frauen. Gab es Fleisch – nur zwei- bis viermal die Woche – erhob er sein Haupt und fixierte die drei Eisbärinnen (zwei Eisbärinnen sind in den letzten Jahren sehr alt gestorben), die sofort das Fleisch aus dem Maul fallen ließen und sich in ferne Ecken verdrückten. Statt einer hatte er dann regelmäßig vier Fleischportionen.
Mit Vienna hat er insgesamt sechs Kinder gezeugt. Beim letzten Zeugungsversuch rutschte Vienna aus; das versetzte Churchill in eine so rasende Wut, dass er ihr eine riesige Fleischwunde am linken Oberschenkel zufügte. Vienna gelang die Flucht, bevor er sie totbeißen konnte. Die Pfleger waren Gottseidank wegen des Gebrülles zur Stelle, öffneten den Schieber und schlossen ihn sofort hinter Vienna, so dass es Churchill nicht gelang, Vienna ins Binnengehege zu verfolgen.
Die Tierärzte hatten viele Wochen mit der Pflege dieser riesigen Fleischwunde zu tun; sie hatte sich entzündet, eiterte noch nach Wochen. Vienna humpelt nun auf drei Beinen, weil sich die Sehnen am verletzten Bein verkürzt haben, hervorgerufen durch eine Schonhaltung.
Wenn’s drauf ankommt, kann sie ihrer Tochter Vilma aber die guten Bissen abjagen, sie versucht es jedenfalls. Fell wird auf dieser Fläche nicht mehr wachsen. In der Wildnis hat man mit einer solchen Wunde keine Überlebenschance. Ganz abgesehen davon, dass Churchill sie da totgebissen hätte.
Man will Churchill und Vienna nicht noch einmal zwecks Begattung zusammenführen. Man hält die Gefahr eines tötenden Bisses für groß, - zumal Vienna ja nicht mehr sicher steht. Und auch Vilma hat einen sanfteren Gefährten verdient (so einen wie Lars oder Knut.).
So hat Churchill sein Alleinsein selbst zu verantworten, wenn es ihm auch nicht bewusst ist. Er ist nun über dreißig Jahre alt und, wie gesagt, ein schönes und imposantes Tier. Nur beim Treppensteigen wird ein arthritisches Humpeln bemerkbar. Ein Pfleger meinte, Churchill sei größer als Troll; da bin ich mir aber nicht so sicher.
Auch Vienna und Vilma sind ausgesprochen schöne Eisbärinnen. Sie vertreiben sich die Zeit mit anregendem Streit um das Futter und um die interessantesten Plätze im Gehege. Sie tun sich nicht wirklich etwas.
In der eisfreien Zeit bereichern Kanister das Freizeitangebot.
Während meines Nachmittags am 13. März erhielten die Eisbären drei Mahlzeiten: Äpfel, weil sie morgens zu wenige erhalten hätten, dann Hunde-Leckerli, kurz darauf Heringe. Die Tiere erhalten nur zwei- bis viermal die Woche Fleisch. Außerdem gäbe es Fastentage. Da kann uns’ Knut sich glücklich schätzen. Die Tierpflegerin meinte, in der Wildnis müssten sie häufig hungern. Das stimmt. Aber auf das regelmäßige Fressen im Zoo kann sich schnell jedes Zootier einstellen. Zumal die Mahlzeiten ja die Höhepunkte des Tages sind. Leben in der Wildnis hin oder her: Der Bär wird enttäuscht sein, wenn das Essen ausfällt. „Und das wollen wir doch nicht!“ (TD)
Ich fragte die Tierpflegerin, ob man die Tiere streicheln könne. Nein, das wäre nur bei den beiden verstorbenen Eisbärinnen möglich gewesen, und auch nur, weil diese sehr alt gewesen seien. Und was würde passieren, wenn man eine Hand durchs Gitter stecken würde? Die wäre weg, was nicht notwendigerweise als aggressiver Akt zu verstehen sei, sondern als ein Reflex. Die Hebelwirkung des Gebisses sei so kraftvoll, dass man schon ein Knut sein müsse, um diese auszusetzen.
Der Pfleger erinnerte noch einmal an den Braunbären, der im letzten oder vorletzten Jahr die Bärin getötet hatte, mit der er erst kurze Zeit zusammen war. Das Kennenlernen und die erste Zeit des Zusammenlebens seien harmonisch verlaufen. Doch dann sei irgendetwas schief gelaufen, womöglich beim Begattungsakt, und der Bärenmann hat die Bärenfrau totgebissen – was bei ihrem Zahn- und Kieferwerkzeug leicht zu bewerkstelligen sei. Schädeldecke oder Halswirbel seien leicht zu knacken für das Gebiss eines erwachsenen männlichen Eisbären oder Braunbären.
Ein bekannter Zoodirektor hat mal erklärt, er würde Braunbären weniger trauen als Eisbären. Eisbären wären vorsichtiger bei Raufhändeln, weil auch kleine Verletzungen in der Arktis mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führen, allein wegen der Eiseskälte, die durch eine Wunde in den Körper dringen kann. Mir leuchtet das ein. Aber vielleicht sind die Eisbärenmänner nur vorsichtig gegenüber ihrem eigenen Geschlecht – Eisbärenfrauen sind ihnen ja unterlegen. Und Eisbärenkinder sind ihnen natürlich eine leichte und gefahrlos zu erlangende Beute.
Um mal Knut aus seinem Tagebuch zu zitieren: „Seit ich die Eisbären kenne, liebe ich die Menschen!“ („Wer war Knut?“, Seite 59) Jedenfalls kann ich nicht mehr ganz ausschließen, dass der „Eisbär an sich“ ein Raubtier ist. Wie wir wissen, gibt es unter ihnen aber Nonkonformisten wie Knut und man sollte sowieso, wie wir ebenfalls wissen, die Individuen differenziert beurteilen.
Interessant ist die Frage, ob und wieweit Eisbären durch angeborenes Verhalten in ihren Aktionen bestimmt sind oder ob sie bei anderen Sozialisationsbedingungen andere, nicht festgelegte, Möglichkeiten der Entwicklung haben. (Ich erlaube mir, noch einmal auf mein Buch und die Kapitel „Knut als Gärtner“, „Knut und der Artenschutz“ und „Warum wir von Knut so tief beeindruckt sind“ hinzuweisen.)
Übrigens sei an dieser Stelle auf die Sonderausstellung „Bestiarium“ von Walton Ford im „Hamburger Bahnhof“ (Berlin) hingewiesen. Dort befindet sich ein wandfüllendes Riesengemälde mit einem „Eisbären des Grauens“ – furchtbar um sich blickend und umgeben mit Knochen, Schädeln und Kadavern. Die Ausstellung läuft noch bis zum 24. Mai.
Der oben zitierte Zoodirektor hat übrigens gemeint, dass es gut für Knuts Sozialisation als Eisbär sei, wenn er das erste Mal mit einer erfahrenen älteren Eisbärendame zusammenkäme, die ihm selbstbewusst zeigen würde, wo’s langgeht. Nun, älter ist Giovanna nicht, aber an Selbstbewusstsein mangelt es ihr ganz gewiss nicht. Insofern ist sie die richtige Wahl für die Gewöhnung an Eisbärinnen. Zweifellos wird Knut sich künftig anderen Eisbärinnen mit Respekt nähern. Aber vorsichtig würde Knut in jedem Falle sein, das ist seine Natur. Für mich ist es unvorstellbar, dass er sich mal zu einem Churchill entwickelt.
Folgende Fragen sind mir angesichts der Tierpfleger-Berichte eingefallen:
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- Wenn Vienna sich nach drei Jahren nicht mehr an Vilma erinnern konnte, an was und
wen kann Knut sich aus seiner Kindheit erinnern?
- Mir fällt noch eine zweite Interpretationsmöglichkeit ein: Vienna konnte sich sehr wohl an
Vilma erinnern, aber im Eisbärenleben verlieren die Kinder den Kinderstatus mit der
Trennung von der Mutter. Dann sind sie nur noch um Nahrung konkurrierende Eisbären,
ohne jede sentimentale Erinnerung.
- Bei Knut kann man sich nicht vorstellen, dass er einen Köpper in den zugefrorenen Graben
macht.
- Giovanna hingegen ist/war tollkühn, wagemutig, verwegen, sich gefährdend, besonders in
der Anfangszeit in Berlin. Sie hat mehrere Stellen im Fell, die auf Verletzungen hindeuten.
Die Pfleger hier in Berlin wissen nicht, wo und wie sie sich die Stellen zugezogen hat,
erklären sie aber mit ihrem unvorsichtigen Verhalten. Würde Giovanna in einen leeren oder
zugefrorenen Graben springen, womöglich mit Köpper oder Rückwärts-Salto, wie man das
bei Vilma befürchtet?[/list:u]