Es fehlte ihm der Mund eines Eisbären ...
Der Frühling ist für mich die schönste Zeit des Jahres. Die Tage werden länger, die Luften erscheinen mir blauer und die Wolken weisser. Der Sonnenschein wird kräftiger und kräftiger. Pflanzen, Sträucher und Bäume schlagen aus, die ersten Frühlingsblumen blühen. Auch in der Tierwelt erwacht neues Leben.
Selbstverständlich ist alles neue Leben wertvoll. Das gilt für mich aber noch ein klein wenig mehr für eine Tierart der mir "seit Knut" an's Herz gewachsen ist: natürlich dem Eisbär. In Zoos rundum meinem Wohnort sind in das vergangene Winter nicht weniger wie fünf Eisbärkinder geboren. Drei davon überlebten: Zwei in Ouwehands Tierpark in Rhenen, Niederlande; eins in dem Zoologischer Garten von Wuppertal, im Bergischen Land.
Die Eisbärkinder in Rhenen habe ich schon mehrmals besucht. Es ist schön zu sehen wie die bis jetzt noch namenlose Eisbärchen ihre Welt entdecken und ebenso schön ist es zu sehen, wie Mutter Huggies sich über ihre Kinder freut und wie fürsorglich sie damit umgeht. Sie strahlt richtig! Huggies ist aber auch eine sehr erfahrene Mutter, die schon acht Kinder auf die Welt gebracht und aufgezogen hat.
Das Eisbärmädchen in Wuppertal hat schon einen Namen: Anori, "Kind des Windes", so genannt weil es an dem Tag als die kleine Eisbärin geboren wurde, draussen sehr stürmisch war. Es ist das zweite Mal, das Vilma Mutter geworden ist. Dieses Mal mit hilfe von ihrem Gefährten Lars, dem Vater von Knut. Das macht also Anori im genealogischen Sinne zur Halbschwester von dem berühmten (aber vor alles geliebte) Eisbär aus Berlin.
Am Wochenende, dem 14ten April war es so weit: ein Besuch bei Anori und Familie war angesagt. In Gegensatz zu Ouwehands Tierpark ist das Eisbärengehege im Zoo Wuppertal klein. Einen Vorteil hat das aber doch: Während die Eisbärkinder in Rhenen oft 100 Meter entfernt spielen, unter den wachsamen Augen von Mutter Huggies, ist es in Wuppertal möglich Anori und Mutter Vilma ganz, ganz nah zu sehen - nur mit einer Glasscheibe zwischen Besucher und Tier.
Ob das Herankommen von Besuchern auch von den Tieren als Vorteil gesehen werd, ist natürlich fraglich ... Glücklicherweise können sie sich aber immer selbst entscheiden, ob sie in der Mutter-Kind-Anlage verbleiben oder in's Innengehege gehen wollen.
Genau wie in Rhenen ist es in Wuppertal faszinierend zu erleben wie Anori ihre Welt entdeckt und wie zärtlich Mutter Vilma mit Anori, dem ersten überlebenden Kind, umgeht.
Genauso interessant war aber der Unterschied mit den Bären im Ouwehands Tierpark. In Rhenen toben zwei Kinder mit ungefähr gleichen Kräfte und einem gleichen Entwicklungsstadium miteinander. Obwohl es zwischen den Beiden und Huggies sehr viel Kontakt gibt, sieht es anders aus wie bei Vilma und Anori, wo kein Dritter im Spiel ist. Das Kontakt ist öfter und intensiver, so scheint mir. Gut denkbar: Vilma hat eine Doppelrolle; sie ist Mutter únd sie ist Spielgefährtin.
Der Kontakt hat übrigens unterschiedliche Formen. Oft hört man ein leises Brummen; Mutter und Kinder gucken einander an - mit welchen Augen! Mit ihren grossen Tatzen weiss der Mutter streitende Bärchen von einander zu trennen und ist sie behilflich, wenn grosse Felsen oder glatte Baumstämme noch einen Schritt zu hoch sind. Erziehendes Stubsen ist auch in das Aufzucht-Programm inbegriffen. Mit ihrer zarten Nase wird gekuschelt und beruhigt. Auch die einfache Anwesentheit und andauernde Aufmerksamkeit der Mutters ist eine Form von Kontakt, der für die Bärenkinder unverzichtbar ist. Alles wird beobachtet, nicht nur von Mutter zu Kind aber auch von Kind zu Mutter: Auch bei der Bären-Erziehung ist es so, das sie mit gutem Beispiel vorangeht.
Bis meiner Besuch im Zoo Wuppertal habe ich das immer so gesehen. Aber so nah an Vilma und Anori bemerkte ich noch eine andere Weise von Kontakt - ein der vielleicht wohl ein der wichtigsten Formen bei Eisbären ist: der Mund. Oder weniger höfflich: das Maul, wenn ihr wollt.
Ich kann jetzt viele Worte benutzen um das zu erklären. Doch ich möchte lieber, dass ihr einfach mit mir mitguckt. Mal sehen ob ihr euch meiner Meinung anschliessen könnt.
Seht ihr das? Wie ein Eisbär mit dem Mund nicht nur essen, sprechen und küssen, aber auch streicheln, liebkosen, geniessen, beruhigen, schmusen, unterstützen, zufrieden stellen, begnügen, loben, trösten, ermutigen, führen und selbst bestrafen, warnen und zurechtweisen kann? Was für eine Ausdruckskraft und Expressivität! Dazu können wir uns gar keine Vorstellung machen von der extra Dimension, die das ultra-gute Geruch dazu geben soll. Da bekommt meiner Meinung nach der Begriff "reden ohne Worte" eine viel grossere Bedeutung, als ich je gedacht habe.
Wie natürlich macht Vilma das alles bei Anori! Ich müsste zurückdenken an Thomas Dörflein und Knut, auch weil ich den Teil von Knuts Erziehungs-Geschichte nicht persönlich erlebt habe und es nur aus zweiter Hand kenne. Ich glaube, Thomas Dörflein fehlte "der Mund eines Eisbären". Wie schwierig muss es für ihn gewesen sein, Knut auf "eisbärengerechte" Weise auf zu ziehen, weil ihm nur sein - in diesem Kontext armselige - menschliche Körper zu Verfügung stand. Wie lange brauchte Knut um zu merken, dass er ein Eisbär war und kein Mensch. Die Körpersprache, vor allem die Körpersprache mit dem Mund, fehlte. Auch Knut fehlte "der Mund eines Eisbären"... Nur wenn er sich die "Sprache des Mundes" eigen machte, konnte er Giannas Gesten verstehen und sie richtig deuten, so dass eine grosse Zuneigung zwischen den Beiden entstehen konnte.
Das ist keine Kritik an Thomas Dörflein. Im Gegenteil: Es erstaunt mich immer mehr, was er mit völlig unzureichenden Mitteln bei Knut erreicht hat.
Der Schriftsteller und Filmemacher Michael Miersch schrieb in sein Nachruf *) für Thomas Dörflein:
"Je häufiger man Thomas Dörflein im Jahr 2007 sah, desto mehr wuchs der Respekt vor ihm. Ein Mensch, der unverhofft berühmt wurde, jedoch keine wohlfeilen Sprüche klopfte und sich nicht vor Kameras prostituierte. War es diese Wortkargheit, die ihn so sympathisch machte? Dörfleins Wirkung beruhte nicht auf effekthascherischem Schweigen. Das Besondere lag in der Weigerung, die ihm zugedachte Rolle anzunehmen. Dörflein machte nicht auf "Bärenflüsterer" oder "Klimabotschafter", sondern blieb Tierpfleger. Menschen, die durch Genügsamkeit und Gelassenheit ihre Seelenruhe finden, sind selten geworden in einem Klima hitziger Eitelkeit, in dem selbst Terroristen in die Talkshows drängeln und Pilgerreisen zu Events werden."
Um als Mensch eine Brücke zu einem Eisbären zu bauen, welches Thomas Dörflein bestimmt gelungen ist, muss man aber ein aussergewöhnlich guter Kommunikator sein.
"Kann der blöde alte Rentner in der blauen Jacke nun endlich weiter laufen!?" brüllte man zu mir am Gehege. Inzwischen kamen mir in der Hektik der Menschenmassen am Wuppertaler Eisbärengehege die oben beschriebenen Gedanken in den Sinn.
*) Quelle: http://www.welt.de/vermischtes/article25...-Doerflein.html